Rezension zu Sterben im Krankenhaus
trend informationen für Führungskräfte der Sozialwirtschaft 12.2013
Rezension von Susanne Bauer
Die Gießener Sterbestudie 2013
In Deutschland stirbt mittlerweile jeder zweite Mensch im
Krankenhaus; insgesamt sind dies rund 400.000 Menschen im Jahr.
Grund genug für den Gießener Wissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang
George genauer hinzuschauen, unter welchen Bedingungen dies
geschieht. »Es kann nicht sein, dass das Sterben im Krankenhaus
Terra Incognita ist«, sagte George im Interview mit der Frankfurter
Rundschau am 8. Oktober 2013. In seinen Forschungsarbeiten widmet
sich George der Frage, ob es systematische Defizite in der
Versorgung Sterbender in deutschen Kliniken gibt oder ob die
bestmögliche Versorgung gewährleistet wird. Des Weiteren zielt
seine Forschung darauf ab, Handlungsempfehlungen zu formulieren,
was zu tun ist, damit das Krankenhaus ein Ort des »guten Sterbens«
wird.
Am 12. Oktober 2013 stellte George auf dem Kongress »Sterben im
Krankenhaus« die Neuauflage der »Gießener Studie zu den
Sterbebedingungen in deutschen Krankenhäusern« (»Gießener
Sterbestudie«) vor. Bereits 1988 hatte er eine vergleichbare
Untersuchung durchgeführt, in der diverse Mängel und Problemfelder
in Bezug auf die Situation Sterbender in deutschen Krankenhäusern
zu Tage traten. Im Vergleich zu 1988 habe sich die Lage 25 Jahre
später zwar gebessert, sie sei jedoch immer noch problematisch, so
der Wissenschaftler.
Für seine Studie befragte George im Zeitraum 2012 bis 2013 über
1.400 Ärzte und Pflegekräfte aus insgesamt 212 Krankenhäusern in
ganz Deutschland. Um die Ergebnisse in Bezug zu der früheren Studie
setzen zu können, wandte er die identische Methode wie bei seiner
Analyse im Jahr 1988 an. Er entwickelte einen Fragebogen mit 40
Fragen, um die tatsächlichen Bedingungen für Sterbende im
Krankenhaus zu ermitteln. Dabei fragte er auch nach verschiedenen
Einflussfaktoren wie Trägerschaft, Versorgungsauftrag, Art der
Station, Berufsausbildung und Alter der Betreuenden im
Krankenhaus.
Das Ergebnis zeigt, dass nach wie vor problematische Bedingungen
bestehen, insbesondere bei der Eignung der Patientenzimmer, der
Einbeziehung der Angehörigen in die Pflege und Betreuung Todkranker
und bei der Schmerzbehandlung. Der Anspruch der Krankenhäuser,
Leben zu erhalten und die Gesundheit wiederherzustellen, sei mit
der Versorgung sterbenskranker Menschen schwer zu vereinbaren. In
erster Linie betrachteten sich die Krankenhäuser noch immer als
Heilungseinrichtungen und hätten die Betreuung Sterbender nicht im
Blick. »Sterben ist im Regelbetrieb nicht vorgesehen«, stellt
George fest (S. 116).
Insgesamt seien Krankenhäuser nur unzureichend auf die Begleitung
Sterbender vorbereitet, wobei es Unterschiede je nach Station gebe.
In der Onkologie, wo viele sterbenskranke Patienten versorgt
werden, sei die Situation für Sterbende in den meisten Fällen noch
am besten. Arbeitsklima, Wertschätzung und die Kommunikation seien
dort am weitesten entwickelt.
Auf der Intensivstation sei der Tod als Bedrohung ständig präsent,
aber Ärzte und Pfleger würden viel zu häufig (bei 40 Prozent der
todkranken Patienten) zu unnötigen lebensverlängernden Maßnahmen
greifen. Das Sterben zuzulassen und dem Patienten zu erleichtern,
bedeute nicht zuletzt eine Umstellung für das Personal. Außerdem
würden hier die Angehörigen unzureichend eingebunden und wenig
verständlich kommuniziert.
Auf der Allgemeinstation seien die Ressourcen besonders knapp,
sodass Ärzte und Pflegekräfte aus Zeitmangel und wegen fehlender
Ausbildung oft nur unzureichend auf die Begleitung Sterbender und
die Einbeziehung der Angehörigen vorbereitet seien.
Palliativstationen, welche die Patienten lediglich schmerzlindernd
behandeln, gebe es erst in jedem zehnten Krankenhaus, außerdem
seien sie oft nicht mit anderen Bereichen in der Klinik vernetzt.
Hospize seien insgesamt noch wenig verbreitet und betreuten aktuell
nur einen Bruchteil der Sterbenden.
»Welcher Weg muss nun eingeschlagen werden, um die verschiedenen
Arbeitsbereiche der Krankenhäuser (…) zu einem guten Ort für
Sterbende werden zu lassen?« (S. 103) Dieser Frage geht George im
Folgenden nach. Als Beispiel, dass es auch anders geht, nennt
George ein Regierungsprogramm in Irland mit dem Namen »Hospice
Friendly Hospital«. Mit diesem Zusatz können sich irische
Krankenhäuser bezeichnen, wenn sie die Palliativmedizin in die
Krankenhausregelversorgung integrieren und gemäß den offiziellen
Leitlinien für die Betreuung Sterbender (»Design and dignity.
Guidelines for physical environments of Hospitals Supporting
End-of-Life-Care«) handeln.
In der Schweiz existiert eine Initiative namens »Nachhaltige
Medizin«, die sich auf die Krankenhausversorgung insgesamt bezieht,
aber genauso für die Betreuung Sterbender gilt. Die Schweizerische
Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat 2012 ein
Positionspapier veröffentlicht, dass fünf zentrale Missstände in
Kliniken nennt und Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt. Würden
diese Grundsätze allgemein anerkannt und befolgt, so wäre auch die
Lage für sterbende Patienten in Krankenhäusern besser, so
George.
Beim Vergleich der Ergebnisse der »Gießender Sterbestudie« von 1988
und von 2013 stellte George fest, welche Interventionen im
Krankenhaus eine Verbesserung für die Sterbenden und ihre
Angehörigen bringen können. Diese seien beispielsweise die Aufnahme
des Themas Sterben in das Leitbild der Klinik, eine Strategie zur
Wahrung der Integrität des Sterbenden, eine Anpassung der Aus- und
Fortbildung, das Ermöglichen von Supervision und angemessene
Bedingungen für das Abschiednehmen auf der Station bzw. im
Krankenhaus (S. 111).
In den letzten Jahren sind bereits einige Vereinbarungen auf den
Weg gebracht worden, die zu einer Verbesserung der Betreuung
Sterbender in Krankenhäusern beitragen sollen. So weise zum
Beispiel die »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender
Menschen in Deutschland« den richtigen Weg. Auch die »Grundsätze
der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebetreuung« gingen in die
richtige Richtung, meint George. Im Klinikalltag mangele es
allerdings an der Umsetzung dieser Leitlinien. Werde die Betreuung
von Sterbenden jedoch als Aufgabe der »Patientensicherheit«
erkannt, so könne sie eher angemessen im Krankenhausbetrieb
berücksichtigt werden.
Die entscheidende Voraussetzung für eine bessere Versorgung
Sterbender im Krankenhaus sei, sterbenskranke Patienten auch als
solche zu identifizieren. Häufig werde die Diagnose »Sterbender
Patient« gar nicht gestellt. George vermutet, »dass sich diese
›mangelnde‹ bzw. vermiedene Erkenntnis als zentrales Risiko und
damit als wichtigster ›Fehler‹ des Versorgungsprozesses von
Sterbenden in Krankenhäusern darstellt« (S. 116). Denn nur wenn der
Befund ehrlich gestellt werde (was selbstverständlich nicht einfach
sei), könne auch ein besonderer Versorgungsprozess für die
Sterbenden unabhängig von den üblichen Abläufen auf der Station in
Gang gebracht werden.
Ein weiterer Ansatzpunkt für eine Verbesserung der Situation
Sterbender in Krankenhäusern sei, so George, die Entwicklung einer
»Krankenhauskultur, welche der Endlichkeit des Lebens und der
Irreversibilität von Krankheits- und Behinderungserfahrungen einen
angemessenen Platz einräumt« (S. 116). Noch immer seien die
Kliniken «nicht auf die Betreuung Sterbender ›eingerichtet‹« (ebd.)
und würden sterbende Patienten überwiegend den gleichen
»Stationsroutinen« unterziehen wie kranke mit Aussicht auf
Genesung.
Die »Gießener Sterbestudie« wurde im Oktober 2013 in einem
Sammelband mit dem Titel »Sterben im Krankenhaus.
Situationsbeschreibung. Zusammenhänge, Empfehlungen«
veröffentlicht, der gemeinsam von Wolfgang George, Eckhard Dommer
und Viktor R. Szymczak im Psychosozial-Verlag herausgegeben wurde.
Das Buch enthält Beiträge von verschiedenen Wissenschaftlern aus
unterschiedlichen Blickrichtungen zur Erforschung der Bedingungen
für Sterbende in Krankenhäusern. Die Beiträge haben teils einen
ethischen Fokus, teils konzentrieren sie sich auf die Abläufe und
Einflussfaktoren in den Kliniken. Zwei Artikel steuern eine
internationale Dimension bei, indem sie die Zustände in Schweizer
Intensivstationen beschreiben bzw. international gültige
Bedingungen für das Sterben im Krankenhaus aufdecken.
Das Buch »Sterben im Krankenhaus. Situationsbeschreibung.
Zusammenhänge, Empfehlungen«, herausgegeben von Wolfgang George,
Eckhard Dommer und Viktor R. Szymczak (ISBN 978-3-8379-29331-5) ist
im Buchhandel zum Preis von 29,90 Euro erhältlich. Das Interview
mit Prof. Dr. Wolfgang George vom 8. Oktober 2013 ist auf der
Homepage der Frankfurter Rundschau abrufbar.
www.sozialbank.de