Rezension zu Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus
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Rezension von Hanno Plass
Der Sammelband weckte große Erwartungen, so verhieß der Untertitel
»Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des
Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen«. Doch, das sei vorweg
gesagt, die Erwartungen, sozialpsychologische Untersuchungen und
Analysen zu finden, wurden enttäuscht. Zwar zeugen die Beiträge von
Makus Brunner, Jan Lohl, Rolf Pohl, Sebastian Winter, Sasch Howind,
Isabelle Hannemann und Wolfram Stender durch Belesenheit und einem
gemeinsam geteilten theoretischen Horizont: der kritischen Theorie
– oder vielmehr: der Kritischen Theorie mit »capital K« – eine
kanonisierte Textsammlung von Adorno, Horkheimer, Fromm…
Zwar betont die Einleitung von Brunner, Lohl, Pohl und Winter den
Anspruch des Gegenwartsbezugs sozialpsychologischer Analysen,
primär verbleiben die Artikel aber den theoretischen Aporien
verhaftet und verfangen sich in der historistischen Rekonstruktion
der Elemente einer politischen Sozialpsychologie. Die Verweise auf
den historischen Hintergrund der Sozialpsychologie bleiben spärlich
und ihre 1944 in San Francisco auf dem »Psychiatrischen Symposium
zum Antisemitismus« vorgestellten Analysen und Interpretationen
werden zumeist wiederholt, nicht weiterentwickelt. Das ist zum
einen schade, weil es die (vielleicht zu Unrecht gehegten)
Erwartungen enttäuscht; es ist aber zugleich weit mehr, nämlich
analytisch eingeengt. Denn gerade Ernst Simmel stellt in seinen
einleitenden Worten zum Sammelband der Tagung heraus, dass sich der
Antisemitismus in der Zeit gewandelt hat, 1944 ein anderer ist als
noch vor wenigen Jahrzehnten (1). Die Veränderungen der
sozialpsychologischen Konstellation des Antisemitismus der
Gegenwart werden von den Autoren nicht aufgegriffen. Auch Leo
Löwenthal, einer der wichtigsten Beiträger der Kategorien eines
demokratisch verkleideten Antisemitismus nach Auschwitz, wird wie
ein Zaungast abgehandelt. Seine Analysen der »Falschen Propheten«
finden keinen Widerhall in dem Sammelband. Dabei wäre sein Beitrag
zu einem demokratisierten Antisemitismus, wie er an den
»Vorurteilsbildern« zum Vorschein kommt, für die Fragen nach einem
aktuellen Antisemitismus in der neoliberalen Ära relevant. Indem
Löwenthal die Interviews mit amerikanischen Arbeiterinnen und
Arbeitern unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten analysiert,
schafft er eine empirisch grundierte Studie, die für die Gegenwart
fehlt (2).
Es überwiegt der Akademismus, der nur über den Filter der
wissenschaftlichen Publikation Phänomene des gegenwärtigen
Antisemitismus wahrnimmt – worüber es keine wissenschaftliche
Literatur gibt, wird nicht in Betracht gezogen. Die akademische
Vorformung schlägt sich nicht nur negativ in der Schreibweise
nieder, sondern auch in der Frage‑ und Problemstellung. Denn vor
allem sind es aus der akademischen Sozialforschung kommende
Probleme, die aufgegriffen werden. Erst in dieser Vermittlung wird
die Gesellschaft einbezogen. Das birgt Fallstricke. Denn
gesellschaftliche Phänomene von Antisemitismus,
(Neo‑)Nationalsozialismus, etc. fallen nicht mit ihrer akademischen
Reflektion zusammen. Beides wäre im Sinne einer kritischen Theorie
der Gesellschaft als Teil eines gesellschaftlichen
Gesamtzusammenhangs zu kritisieren (wenngleich mit anderen
Mitteln). Was sagen soll: eine den gegenwärtigen akademischen
Theorien und Forschungsmethoden entsprechende theoretische
Systematisierung und Bearbeitung eines gesellschaftlichen Phänomens
kann nicht kritisch sein in der Hinsicht, dass die akademische
Bearbeitung keinen Beitrag leistet zu einem »entfalteten
Kategorialurteil«, als welches kritische Theorie sich einmal
begriff. Die immer wieder heranzitierten Horkheimer, Adorno, auch
Löwenthal und Fromm, ebenso Marcuse, haben bedeutende und auch
wenig beachtete Kämpfe gegen die jeweils vorherrschenden
akademischen Moden gekämpft. Und zugleich die Phänomene der
falschen Gesellschaft theoretisch reflektiert. (Dies als Teil einer
aufklärerischen Praxis kritischer Theorie – sei’s im 19., sei’s im
20. Jahrhundert.) Kurz: es wird sich wenig getraut aus dem Gehäuse
des universitären Referenzsystems auf die Gesellschaft zu
schießen.
Stattdessen wird sich an Akademikern, Theoretikern und ihrer
Textproduktion abgearbeitet. Diese Doppelung von falscher
Gesellschaft und falscher Theorie, bzw. der angemessenen Theorie
einer falschen Gesellschaft, wird nicht auseinandergehalten in
diesem Band. Gerade bei den meines Erachtens interessantesten
Beiträgen macht der Hang zur akademischen und nicht
gesellschaftstheoretischen Diskussion die Texte dröge, zäh,
bisweilen gar abseitig. Ihr Vorbild haben die bisweilen langatmigen
Texte an Seminararbeiten gefunden, die schematisch Einleitung,
These, Hauptteil, Schluss, Literatur in zig verschiedenen Punkten
fordern. Pointierte Artikel wären für das Verständnis besser
gewesen. Zugleich muss der Selbstverständigungscharakter, den das
Buch zu tragen scheint, berücksichtigt werden. Als Grundlage für
eine weitere Diskussion sozialpsychologischer Theorie der Gegenwart
kann es dienen, zur Vorstellung der Arbeit der AG Politische
Psychologie gereicht es allemal. Während einige Artikel verhandeln,
was zumindest Leserinnen und Lesern einschlägiger Publikationen
bekannt sein dürfte (3), stechen andere wiederum durch detaillierte
Problemaufrisse und gegenwartsanalytische Beobachtungen heraus
(4).
Die anregendsten Beiträge boten Rolf Pohl, Isabelle Hannemann und
Wolfram Stender. Pohl explizierte seine Kritik an nicht-normativen
Forschungsverfahren und Deutungsweisen der »Täterforschung« wie sie
durch Christopher Browning und Harald Welzer in Wissenschaft und
Feuilletons populär wurde. Die pseudo-analytische Sprache der
wissenschaftlichen Differenzierungen bieten wenig grundlegenden
Erkenntnisgewinn sondern nötigen dem zu untersuchenden Objekt eine
unangemessene und abstrahierende Kälte auf. Diese schlägt sich, wie
Pohl nachweist, in präjudizierenden Aussagen wieder – »Alles ist
möglich« – und verweigert sich der Einlassung auf die konkrete
Geschichte. Auch die Frage der »Normalität« im Nationalsozialismus,
darauf insistiert Pohl, ist nicht nur relativ, sondern immer von
ihren Vexierbildern Abweichung und Perversion begleitet, oftmals
Projektionen der »normalen Volksgenossen« auf die Abweichenden mit
kaum zu unterschätzenden Konsequenzen. Während die Diskussion der
aktuellen Geschichtswissenschaft durchaus verdienstvoll ist,
hinterlässt der Mangel an quellengestützter Analyse von Täterschaft
und ›Normalität‹ den Eindruck, der Artikel komme nur den
Epiphänomenen nahe. Eine materialreichere Untersuchung, welche sich
den Verhältnissen von Subjekt, NS-Volksgemeinschaft und
Massenmobilisierung annähert, steht bei aller Produktivität der
gegenwärtigen Wissenschaft aber immer noch aus, vor allem eine, die
mit Begriffen kritischer Theorie operiert. Vor dem Hintergrund der
Konklusion Christopher Brownings in seiner bahnbrechenden Studie
»Ganz normale Männer«, in welcher Browning die Muster der
Täterschaft der Mitglieder des Reservepolizeibattaillons 101 auf
die Gewalt des Krieges appliziert.
Isabelle Hannemanns Auseinandersetzung mit Täterinnenschaft und
weiblicher Grausamkeitsmotivation besticht durch ihre detaillierte
Untersuchung zu Fragen weiblicher Perversion, im Subjekt
sedimentierender differierender Geschlechtserfahrung, sexuelle und
sexualisierte Gewalt. Hingegen dort, wo es um die akademische
Auseinandersetzung und die theoretischen, aus dem akademischen
kommenden, konzeptuelle Erweiterung von psychoanalytischen Modellen
geht, wird ihr Essay schwach. Nicht weil es Hannemann an
Belesenheit fehlen würde, im Gegenteil; es mangelt an dem Nachweis
der gesellschaftlichen Relevanz bspw. des »Körper-Raum-Konzepts«.
Seine Notwendigkeit wird aus der Theorie begründet – und ermangelt
daher der Grundierung durch Gesellschaftlichkeit, leider. Zu
bedauern ist auch der Artikel von Sascha Howind, der den
Sprachduktus des linken Dogmatismus bedient; ellenlang werden Freud
und Adorno referiert, am Ende folgt ein apodiktischer Satz, der das
Zitat analytisch abzurunden meint. Die harten kurzen Hauptsätze
suspendieren den Gedanken durch die abgeschlossenene Form: »Hitler
verkörperte die Rolle der strafenden Autorität.« Punkt. Der Artikel
klappert im Gang des Schemas »Überbau‑ökonomische Basis«, welches
historische und gesellschaftliche Differenzen im ehernen Gang der
marxistisch-leninistischen Siegesgewissheit planiert (5).
Wolfram Stender arbeitet für das 21. Jahrhundert drei Formen des
autoritären Syndroms heraus. Erstens einen ethnischen
Nationalismus, zweitens sekundären Antisemitismus, drittens
kulturalistischen Rassismus. Die Adjektive zeigen die Neuerungen an
den Phänomenen an, die sich im Kern zu – hier verweist Stender auf
Shulamit Volkov – »kulturelle Codes« verfestigt hatten. Trotzdem,
dass sich Antisemitismus und Nationalismus wie auch Antisemitismus
und Rassismus immer wieder neu verbinden, sind die Differenzen
nicht zu unterschätzen. (S. 236 ff.) In seinem Praxisbericht macht
Stender deutlich, wie Antisemitismus abgespalten und durch einen
antimuslimischen Rassismus verdrängt wird – Antisemitismus wird zum
Problem der »Muslime« erklärt, das bundesrepublikanische Trugbild
eines anti-antisemitischen Grundkonsenses bedient. Darauf zu
insistieren, dass die Projektionen der authochtonen Deutschen auf
ihre allochtonen Nachbarn von rassistischem Ressentiment gespeist
sind, ist gegenwärtig richtig, wichtig und zu unterstreichen.
Zugleich wäre aber die Untersuchung der Bedeutung des migrantisch
geprägten Antisemitismus auf die bundesdeutsche Gesellschaft und
ihre Korrelation mit den belegten 20 bis 60 Prozent antisemitisch
und antisemitisch-autoritärer Bürger in diesem Land aufschlussreich
gewesen.
Auch um der Realität einer zumindest partiell multikulturellen
Gesellschaft, wie die BRD als Einwanderungszielland sie darstellt,
ein Stück gerechter zu werden. Zu hoffen bleibt erstens, dass die
Ansprüche des Sammelbandes, sozialpychologische Analysen von
Gegenwart und Vergangenheit fruchtbar zu machen, sich in Zukunft
deutlicher zeigen. Dies vor allem, weil diese Analysen auf eine
Tiefe der Phänomene dringt, die den meisten anderen analytischen
Instrumenten verwehrt bleibt. Zweitens ist zu hoffen, dass dieser
Sammelband der Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie eine
erste Selbstverständigung darstellt und die nächsten Schritte über
diesen Punkt hinausgehen. Die AG scheint jedoch, so schleicht es
bisweilen durch die Zeilen, an einem Scheidepunkt zu stehen: möchte
sie Sozialpsychologie als kritische Theorie der Gegenwart oder
Kritische Theorie als Garnierung akademischer Karriereanstrengungen
betreiben. Das mag der nächste Band aus dem Arbeitszusammenhang
zeigen.
Markus Brunner, Jan Lohl, Rolf Pohl, Sebastian Winter (Hg.):
Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. Beiträge zur
psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und
seiner Nachwirkungen, Gießen 2011 (Psychosozial-Verlag), 252 S.,
24,90 EUR.
Anmerkungen
(1) Ernst Simmel: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Antisemitismus,
Frankfurt am Main 1993 [Erstausgabe in New York/Boston 1946 unter
dem Titel »Anti-Semitism. A Social Disease«], S. 12–22, hier: S.
12.
(2)»Prophets of Deceit«, so lautete der Originaltitel der 1949 in
New York und Boston erschienenen Studie über die faschistische
Agitation in den USA, die Löwenthal gemeinsam mit Norbert Guterman
erarbeitet hatte. Sie bilden den fünften Band der durch das
American Jewish Committee und dem Institut für Sozialforschung in
den USA durchgefürhten und publizierten »Studies in Prejudice«. In
dieser 1950 abgeschlossenen Reihe erschien auch die Studie »The
Authoritarian Personality«, die partiell ins Deutsche übertragen
wurde, wenngleich hier sich auf den alphabetisch ersten Adorno
konzentrierend. Online sind alle Bände der »Studies in Prejudice«
wie auch kontextualisierendes Material (Briefwechsel, Memoranden
und Buchbesprechungen) zugänglich:
http://www.ajcarchives.org/main.php?GroupingId=1380 »Antisemitism
among American Labor«, eine 1400 Seiten starke Studie des Instituts
für Sozialforschung, die bis heute unpubliziert ist.
»Voruteilsbilder. Antisemitismus unter amerikanischen Arbeitern«
wurde im Band 3 der Schriften Löwenthals (Frankfurt am Main 1990,
S. 177–236) publiziert. Siehe dazu auch: Catherine Collomp (2011):
‘Anti-Semitism among American Labor’: a study by the refugee
scholars of the Frankfurt School of Sociology at the end of World
War II, Labor History, Vol. 52, No. 4, pp. 417–439.
(3) Zu den einschlägigen Texten gehören: Sebastian Winters »Lüstern
und verkopft. Zur affektiven Dimension antisemitischer Feindbilder
im Nationalsozialismus«, Jan Lohls »Das psychische Erbe des
Nationalsozialismus. Ein psychoanalytischer Beitrag zur
Generationenfroschung«
(4) Demgegenüber hat Detlev Claussens Artikel über die »Umgekehrte
Psychoanalyse. Leo Löwenthals Beitrag zu einer analytischen
Sozialpsychologie« (Freibeuter 57, 1993, S. 129–137) weitaus
größere Aktualität bewahrt.
(5) Auch ist der Artikel von einer missachtenden Schlampigkeit
gekennzeichnet: Die SOPADE ist die Bezeichnung für die SPD im Exil
nach 1933; der Begriff der »Ästhetisierung des Politischen« geht
auf Walter Benjamin und seinen Aufsatz über die Kunst im Zeitalter
ihrer technischen Reproduzierbarkeit zurück – wenn man ihn zitiert,
sollte man auch den Autoren nennen.
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