Rezension zu Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus
Neues Deutschland vom 31. August 2011
Rezension von Carsten Becker
Wenig beachtet
Aktuelle Debatten der sozialpsychologischen NS-Forschung
Warum hat ein Großteil der deutschen Bevölkerung selbst als das
Ende des Hitlerregimes abzusehen war, keinen Widerstand geleistet?
Diese Frage beschäftigt die historische Forschung seit Jahrzehnten.
Im Gegensatz zu Erklärungsansätzen, die Hitlers angebliches
Charisma oder die Repression dafür verantwortlich machen, sind
sozialpsychologische Ansätze immer noch wenig beachtet. Das Buch
»Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus« gibt einen auch
für Laien guten Überblick über aktuelle Debatten dieser Richtung
der NS-Forschung. In acht Aufsätzen diskutieren Wissenschaftler der
Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie an der Leibniz
Universität Hannover historische Fragen. So setzt sich der
Sozialwissenschaftler Sascha Howind kritisch mit Götz Alys These
vom NS-Sozialstaat für deutsche Volksgenossen auseinander.
Demgegenüber betont Howind, dass es bei der NS-Volksgemeinschaft
gerade nicht um materielle Egalität ging: »Anstelle von Gleichheit
wurde Homogenität erzeugt, die soziale Realität war von Ausgrenzung
gekennzeichnet, vom Fortbestand sozialer Ungleichheit etwa in Bezug
auf die Reallöhne als auch von neuen Ungleichheiten, die sich aus
der rassistischen Politik ergaben.«
Die Literaturwissenschaftlerin Isabelle Hannemann zeichnet die
feministische Debatte über die Rolle der Frau im NS nach. Im
Zentrum ihres Beitrags steht »der Zickzackkurs der historischen
Frauenforschung und die Frage, warum man deutsche Frauen zunächst
als Unschuldige, gar als Opfer patriarchaler Umstände oder
lediglich als Mittäterinnen betrachtete, obwohl einige bereits im
Bergen-Belsen-Prozess 1945 als Täterinnen hingerichtet wurden«. Es
ist wohl auch ein Ausdruck für Herabsetzung weiblicher
Wissenschaftstätigkeit, dass die Historikerinnendebatte über die
Rolle der Frau im NS anders als die von Ernst Noltes Thesen
angestoßene Debatte öffentlich kaum wahrgenommen wurde.
Mehrere Aufsätze im Buch setzen sich mit der These, die NS-Täter
seien ganz normale Staatsbürger gewesen, auseinander. Als Beispiel
für »die Banalisierung des nationalsozialistischen Verbrechens im
Zeichen des Normalitätsdogmas« kritisiert der Soziologieprofessor
Rolf Pohl die Thesen des Sozialwissenschaftlers Harald Welzer, der
es ablehnt, die NS-Politik anhand einer »Nachkriegsmoral« zu be-
und verurteilen. Pohl erinnert diese Argumentation an die
Verteidigungslinie des ehemaligen baden-württembergischen
Ministerpräsidenten Filbinger, der erklärt hatte, was damals
Recht
war, könne heute nicht Unrecht sein.
Über antisemitische Feindbilder, die ebenso wie die
Volksgemeinschaftsideologie den Nationalsozialismus überdauert
haben, informiert der Psychologe Sebastian Winter mit Rückgriffen
auf Schriften von Margarete Mitscherlich und Klaus Theweleit.
Carsten Becker
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