Rezension zu Lust-voller Schmerz

Zeitschrift für Sexualforschung, Dezember 2009

Rezension von Phoebe Kaiser

»Lust-voller Schmerz« führt inhaltlich die Diskussion fort, die auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung zum Thema »Lust und Schmerz – Sadomasochistische Perspektiven« vom 11. bis 13. Mai 2007 in Regensburg begonnen wurde und ist als ein vertiefter und erweiterter Kongressband zu verstehen. Er beleuchtet das Thema Sadomasochismus interdisziplinär, Autoren aus den Bereichen Theologie, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Politologie, Psychologie und Medizin kommen zu Wort. Das Buch ist in vier Teile gegliedert: ›Kulturgeschichte des Sadomasochismus‹, ›Sadomasochistische Lebenswelten‹, ›Der klinische Blick‹ und ›Sadomasochistische Phänomene‹.

Im ersten, theologisch-kunsthistorischen Teil wird der Leser mittels Geschichte und Literatur behutsam an das Thema ›Sadomasochismus‹ herangeführt. Zunächst gibt Holger Tiedemann einen historischen Überblick über die Ursprünge des »modernen« Sadomasochismus, dessen »Erfindung« er ohne das Christentum für kaum möglich hält. Wolfgang Berner beschreibt das Leben des Marquis de Sade, die Wirkung seiner Werke zu Lebzeiten und deren Einfluss auf die heutige psychiatrische Bewertung des Sadismus. Peter Gorsen wirft einen kritischen Blick auf die moderne erotische Kunst und geht auf die sadomasochistischen Perspektiven in den Werken von Pierre Klossowksi ein. Abgerundet wird der erste Teil von Volkmar Sigusch, der sich mit dem Begriff der ›Neosexualität‹ auseinandersetzt.

Der zweite Abschnitt über »sadomasochistische Lebenswelten« beginnt mit dem Kapitel »Sadomasochismus in Zahlen« von Kathrin Passig. Sie präsentiert quantitative Befunde aus nationalen und internationalen Publikationen, die von den späten 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis ins Jahr 2006 veröffentlicht wurden. Hierzu zählen auch Daten der Datenschlag-Internet-Erhebung aus den Jahren 2000 und 2001, an der 2000 Personen teilgenommen haben und die von der Autorin selbst initiiert wurde. Andreas Hill legt die Ergebnisse einer 2007 durchgeführten Studie auf Basis der frei verfügbaren Nutzerdaten des lnternetportals ›Gayromeo‹ vor. Volker Woltersdorff gibt Einblicke in die schwule, lesbische und trans-queere SM-Sozialität und zeigt Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen »Szenen« auf. Kathrin Passig berichtet über die heterosexuelle SM-Subkultur, indem sie Begriffserklärungen vornimmt, einen Überblick über die Geschichte gibt und aus ihren eigenen Erfahrungen mit der Gründung eines BDSM-Vereines erzählt. Norbert EIb referiert über das »Liebe-Erotik-Dilemma und kontrollierte Promiskuität in SM-Beziehungen«. Dabei geht er auf die Problematik der sadomasochistischen Orientierung und ihrer sexuellen Erfüllung in SM-Beziehungen ein und beschreibt die kompromisshafte Beziehungsgestaltung mit sogenannten »Nebenbeziehungen«.

Im dritten Teil über den »klinischen Blick« kommen Psychologen und Mediziner zu Wort. June Rathbone berichtet hauptsächlich über eine Studie, für die sie 48 Männer in ihrem Bindungsverhalten untersuchte, die sie über eine Anzeige in einem britischen SM-Magazin rekrutierte. Nikolaus Becker gibt einen Überblick über die psychoanalytische Theorie zu sadomasochistischer Sexualität, untermalt seine Ausführungen mit einem Fallbericht und versucht die Frage »Wann ist SM krank?« anhand fester Kriterien zu beantworten. Der verhaltenstherapeutisch orientierte Psychologe Jürgen Hoyer stellt die klinische Relevanz der Diagnose »Sadomasochismus« gänzlich in Frage und versucht zu klären, welche Faktoren SM-Verhalten motivieren und aufrechterhalten, und wann und wie Verhaltenstherapie Hilfe leisten kann. Für Estela Welldon ist Sadomasochismus abnormes sexuelles Verhalten, das psychodynamisch erklärbar sei und »dem vergeblichen Versuch diene, alte Wunden zu schließen« (S. 203). Ihre These stützt sie mit Fallbeispielen aus der eigenen Praxis. Peer Briken gibt einen Überblick über Sadismus im forensischen Kontext und verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Delinquenz und Störungen der Grundbedürfnisse.

Der vierte Teil des Buches schließlich behandelt körperliche Selbstschädigung als Ausdruck von Sadomasochismus. Ulrike Brandenburg berichtet anhand von Falldarstellungen aus der eigenen sexualmedizinischen Ambulanz über Frauen, die sich eine genitale Schönheitsoperation wünschen. Sophinette Becker schreibt über ihre Erkenntnisse zum Thema »Sadomasochismus bei Transsexuellen«. Zuletzt veranschaulicht Susanne Krege ihre Erfahrungen als Chirurgin bei Geschlechtsangleichungen.

Das Buch enthält interessante Abschnitte und neue Ideen. So definiert beispielsweise Holger Tiedemann in seinem Kapitel neun Kriterien für Sadomasochismus, die er für seine theologisch-historische Spurensuche verwendete: Körperbezogenheit, mentale Selbst- oder Fremderniedrigung, Macht und Ohnmacht, Entbehrung, Lust und Glück beim »Opfer«, Provokation und Öffentlichkeit, Umkehr der bestehenden Verhältnisse, Verstetigung und Inszenierung. Er liefert damit eine mögliche Definition von Sadomasochismus anhand maßgeblicher Merkmale, die weit über die ICD-10-Diagnosebeschreibung hinausgeht und in der sich SM-Interessierte möglicherweise eher wieder finden.

Erfrischend und lebensnah wirkt der Bericht über Neosexualitäten von Volkmar Sigusch. Er charakterisiert Neosexualität als Komplex vielfältiger sexueller Ausdrucksweisen, alternativer Beziehungskonzepte und medizinischer Möglichkeiten. Die Entpathologisierung von nicht normativem sexuellen Verhalten wird vom Verfasser unterstrichen, trotzdem bleibt er kritisch gegenüber der gewonnenen vermeintlichen Freiheit durch die »neosexuelle Revolution«.

Wer sich schon etwas mit der Materie beschäftigt hat, wird im zweiten Teil nicht viel Überraschendes erfahren. Kathrin Passig ist Verfasserin von gleich zwei Kapiteln, einem davon über die SM-Subkultur, deren Geschichte und aktuellen Stand. Ein weiteres fasst wissenschaftliche Publikationen zusammen und liefert Zitate über SM, die teils von haarsträubenden Grundannahmen zeugen, und Zahlen, die diese entkräften und darüber hinaus die Normalität von SM-Praktizierenden untermauern. Die Resultate der Gayromeo-Studie von Andreas Hill mit mehr als 30 Prozent SM-Interessierten unter den Usern erstaunen nicht wirklich, sind aber weitere Bausteine im Hinblick auf die Schaffung eines Bewusstseins für die, zum überwiegenden Teil, nicht pathologische SM-lnteressenslage. Lesenswert ist auch der Beitrag von Volker Woltersdorff, in dem es um die Besonderheiten von schwulem, lesbischem und trans-queerem SM geht, vor allem in Abgrenzung zueinander und zur heterosexuellen SM-Szene. Der Beitrag von Norbert Elb über kontrollierte Promiskuität bestätigt, was in vielen SM-Beziehungen beobachtet, gepflegt und diskutiert wird: das Konzept der Polyamory. Elb beschreibt das Phänomen und bietet ein Erklärungsmodell für diese von vielen SM-Paaren gewählte Beziehungsform, sodass sie nachvollziehbar wird.

Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit der Klinik und wirft dementsprechend entweder einen Blick auf die Pathologie des Sadomasochismus oder einen pathologisierenden Blick auf SM-Praktizierende. Hier finden sich auch angestaubte Betrachtungsweisen, die immer noch Teil der aktuellen Diskussion um das Thema Sadomasochismus sind und insofern einen eigenen Platz einnehmen. Herauszustellen ist hier June Rathbone, die eine fragwürdig konzipierte Studie präsentiert, für die sie 48 SM-praktizierende Männer in ihrem Bindungsverhalten untersuchte. Die Studie ergab, dass alle 48 Personen mit sadomasochistischer Neigung ein gestörtes Bindungsverhalten und höhere Werte für Depression zeigten. Die Autorin findet ihre Grundannahmen bestätigt und spricht ausführlich über ihre ganz persönlichen Ansichten zu SM, die keineswegs neutral sind. Rathbone ist der Meinung, das Leben sei an sich grausam genug, man müsse daher nicht zusätzliche Grausamkeit absichtlich herbeiführen. Estela Welldon gibt ihrem Unverständnis gegenüber Sadomasochisten ebenso nachdrücklich Ausdruck, spricht von Verleugnung und fehlender Anerkennung der negativen körperlichen und emotionalen Folgen sadomasochistischen Handelns. Sie bewertet SM als Perversion auf gleicher Ebene wie Pädophilie, führt als Fallbeispiel eine sadomasochistische Szene mit Todesfolge an und generalisiert anhand dieses Beispiels die Pathologie einer ganzen Bewegung. Sie spricht über Wiederholungszwang negativer Kindheitserlebnisse, gestörte frühe Bindungen und Mütter als Verursacher sadomasochistischen Verhaltens.

Glücklicherweise stehen daneben differenziertere und modernere Ansichten. Der Psychoanalytiker Nikolaus Becker verzichtet weitgehend auf persönliche Kommentare und bleibt auf der Sachebene. Interessanterweise berichtet er über eine Frau, die ihn aufsuchte, weil ihr Partner, mit dem sie eine SM-Beziehung führte, sie erstmalig im Leben zur Nebenpartnerin herabstufte. Die Frau war nicht in der Lage, sich vollständig zu trennen, obwohl sie mit der Situation sehr unzufrieden und weiterhin der Hoffnung war, wieder zur Hauptpartnerin erhoben zu werden. Hat man noch den Beitrag von Norbert Elb im Kopf, der genau dieses Thema näher betrachtet, so wirkt die Situation nicht mehr befremdlich, sondern nachvollziehbar. Es wird klar, dass es sich in der Konstellation nicht um einen ungewöhnlichen Einzelfall handelt, sondern um eine vermutlich häufig auftretende Situation, die hier im Rahmen anderer psychischer Problerne zum Therapiethema geworden ist. Dieser Aspekt taucht in der analytischen Betrachtungsweise Beckers jedoch leider nicht auf. Beckers Krankheitskriterien als Antwort auf die Frage, »Wann ist SM krank?« wirken zunächst in sich schlüssig, doch scheint jegliche SM-Aktivität als pathologisch interpretierbar zu sein und die Frage des Autors daher eher zu lauten: »Warum ist SM krank?«

Im Gegensatz dazu zeigt sich der Verhaltenstherapeut Jürgen Hoyer aufgeschlossen. Seine Meinung zur Therapiebedürftigkeit von SM lautet: SM an sich ist nicht therapiebedürftig. Probleme, die im Zusammenhang mit SM-Verhalten entstehen, beruhen häufig auf Selbstzweifeln, Scham- und Schuldgefühlen, die durch eine affirmative Therapie, also Bestärkung des Patienten in seinem im Grunde nicht schädlichen sadomasochistischen Verhalten bearbeitet werden können. Bei Grundstörungen wie beispielsweise Persönlichkeitsstörungen oder Impulskontrollstörungen sind diese vordergründig zu behandeln und auch eher als Auslöser sexueller Gewalttaten zu werten.

Peer Briken richtet seinen Blick vor allem auf Sexualstraftäter. Er bietet nachvollziehbaren Einblick in die Psychopathologie von Sexualstraftätern und deren Begutachtung im Hinblick auf das Wiederholungsrisiko. Auch diskutiert er die Notwendigkeit der Diagnose »Sadomasochismus« entgegen der von der SM-Szene geforderten Abschaffung und argumentiert mit dem Vergleich von Alkoholkonsum und der Diagnose Alkoholmissbrauch. Nur weil es die nicht pathologische Variante gebe, könne man auf die Diagnose nicht verzichten, was aus der Sicht des forensischen Psychiaters verständlich ist. Brikens Artikel ist lesenswert und wichtig, da auf die existente sadistische Pathologie im Detail eingegangen und ins Gedächtnis zurückgerufen wird, dass es diese gibt.

Der vierte Teil des Buches behandelt körperliche Phänomene, die in Zusammenhang mit Sadomasochismus stehen. Im fallbeispielreichen Beitrag von Ulrike Brandenburg über genitale Schönheitschirurgie ist der Zusammenhang mit dem, was SM-Praktizierende unter »Sadomasochismus« verstehen, meines Erachtens nach nicht gegeben. Behandelt wird aber ein interessantes und gerade unter jüngeren Frauen aktuelles Thema. SM-näher ist der Beitrag von Sophinette Becker, der Einblicke in die transsexuelle SM-Szene gibt – hervorragend recherchiert, unvoreingenommen und ausführlich.

Insgesamt spiegelt das Buch »Lust-voller Schmerz« aktuelle Ansichten und Forschungsergebnisse zum Thema Sadomasochismus wider, teils immer noch vorurteilsgeprägt und voreingenommen, teils differenziert und kritisch, teils aufgeschlossen und entpathologisierend. Beim Lesen ergibt sich so ein eindrucksvoll rundes Bild, das Raum lässt, eine persönliche Meinung zu großen und kleinen Themen zu entwickeln.

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