Rezension zu Wandel von Liebesbeziehungen und Sexualität
Zeitschrift für Sexualforschung, Dezember 2009
Rezension von Renate Ruhne
»Once upon a time, there was a prostitute called Maria« – mit
diesen Worten, mit denen der brasilianische Schriftsteller Paulo
Coelho in sein modernes Märchen »Eleven Minutes« (New York, 2004)
über die Prostituierte Maria einführt, leitet auch Silja Matthiesen
ihre empirische Analyse aktueller Veränderungen von
Liebesbeziehungen und Sexualität ein. Denn in Marias fiktionaler
Geschichte sind viele Aspekte des gegenwärtigen Wandels von
Sexualität und Beziehungen präsent. Die Sexualität ist
zersplittert. Sie existiert nicht mehr als Ganzes, sondern
aufgespalten in verschiedenste Facetten, die sich zu widersprechen
scheinen und doch alle in Marias Leben einen Platz finden: Der
Banalisierung der Sexualität und ihrem kommerziellen Gebrauch in
der Prostitution steht ihre grenzenlose Mystifizierung gegenüber —
ihr Potenzial der Selbstfindung und der Transgression. Die Vision
von der großen Liebe und dem Märchenprinzen steht neben dem
rationalen Kalkül, vielleicht einen reichen Ehemann zu heiraten
oder ganz unabhängig zu bleiben. Masturbation, Partnersex, sexuelle
Fantasien, sadomasochistische Praktiken und prostitutiver Sex
koexistieren friedlich. Die neue Freiheit, sexuelles Vergnügen um
seiner selbst willen zu suchen, wird in Marias Geschichte zum
großen Gegenspieler des alten romantischen Ideals der Dreieinigkeit
von Liebe, Beziehung und Sexualität (S.13).
Das »Märchen« basiert dabei grundsätzlich auf autobiografischen
Gesprächen mit einer brasilianischen Edelprostituierten.
Die sozialen Objektivationen eines solchen Wandels von
Liebesbeziehungen und Sexualität, wie zum Beispiel rückläufige
Heirats- und Geburtenzahlen auf der einen und zunehmende
Scheidungszahlen auf der anderen Seite, sind heute hinlänglich
bekannt und untersucht. Klar ist, dass vor allem die Ehe ihre
einstige Monopolstellung, Liebes- und Familienbeziehungen zu
definieren und vor allem auch Sexualität zu legitimieren, längst
verloren hat. Sie ist zu einer (Sexualität integrierenden)
Beziehungsform unter auch anders möglichen Praxen — und damit zu
einer individuellen Entscheidung — geworden. Konkrete
Ausgestaltungsformen und auch Ausmaß der heute gegebenen
Pluralisierung von Liebesbeziehungen und Sexualität sind allerdings
stark umstritten. Ebenso wie in »Marias Geschichte« (S. 14) ist
heute auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die
Themen Sexualität und Partnerschaft noch weitgehend offen, »wie und
ob Sexualität, Liebe und Beziehungen unter den spätmodernen
Bedingungen von Individualisierung und Globalisierung
zusammenkommen« (ebd.).
An dieser Frage setzen die theoretischen und empirischen Analysen
der Autorin, das Verhältnis von Sexualbiografie und
Partnerschaftsbiografie ins Zentrum stellend, an. Entstanden als
Dissertation im Rahmen eines von der DFG geförderten
Forschungsprojekts zum Thema »Beziehungsbiografien im sozialen
Wandel«, das zwischen 2001 und 2004 am Institut für Sexualforschung
und Forensischer Psychiatrie des Universitätsklinikums
Hamburg-Eppendorf durchgeführt wurde, zielt die Arbeit auf eine
detaillierte Analyse des Wandels der sozialen Organisation von
Beziehungen und Sexualität ab. Empirische Basis sind zum einen 776
im DFG-Projekt erhobene, quantitative Interviews mit Personen der
Geburtsjahrgänge 1942, 1957 und 1972. Zum anderen stützt sich
Matthiesens Analyse – die quantitativ gewonnenen Einsichten
vertiefend und differenzierend — zusätzlich auf offene, narrative
Paarinterviews mit 16 Personen (d.h. mit 8 Paaren) des
Geburtsjahrgangs 1942.
Gerahmt und strukturiert wird die Empirie durch ausführliche
theoretische – und das heißt hier vor allem:
individualisierungstheoretisch inspirierte – Überlegungen zum
Wandel von Biografie, Sexualität, Intimität und privaten
Lebensformen (Kapitel 2). Der Analyse wird zudem eine umfassende
Darstellung der Methodik vorangestellt (Kapitel 3), mit deren Hilfe
Sexual- und Partnerschaftsbiografien unter der »Hypothese ihrer
fortschreitenden Pluralisierung« (S. 129) untersucht werden.
Vorgestellt wird dabei insbesondere auch das für die quantitative
Analyse gewählte statistische Auswertungsverfahren der
Optimal-Matching-Analysis.
Die folgenden Kapitel widmen sich dann den Ergebnissen der
Forschung, wobei zunächst in eher allgemeiner, grundlegender Form
auf Veränderungstendenzen in Beziehungsbiografien eingegangen wird
(Kapitel 4). In der Analyse der Partnerschaftsbiografien der oben
genannten drei Geburtsjahrgänge, die im Längsschnitt »im Sinne
dreier Porträts oder Generationenbilder untersucht werden« (S.
155), wird auch bei Matthiesen eine von Generation zu Generation
zunehmende »Beziehungsfluktuation« (S. 200) sichtbar, die aber
zugleich von deutlichen Ambivalenzen geprägt ist. So sind zum
Beispiel die Beziehungsbiografien des »vermeintlich
traditionellsten Untersuchungsjahrgangs« (S. 175) der 1942
Geborenen zwar einerseits, wie zu erwarten war, durch eine klare
»Dominanz der Ehe« (ebd.) gekennzeichnet, daneben und andererseits
zeigen diese aber auch eine bemerkenswerte »Heterogenität der
Lebensverlaufe« (ebd.) und eine »Vielzahl biografischer Muster«
(ebd.). Ebenso sollten, wie für nachfolgende Generationen zu
betonen ist, die zunehmende »Seriellität und Diskontinuität nicht
darüber hinwegtäuschen, dass der Wunsch nach dauerhaften, ja
lebenslangen Beziehungen nach wie vor hoch ist« (S. 203).
Um solche Ambivalenzen weiter auszuleuchten und insbesondere die
feststellbare »erstaunliche Diskrepanz« (S. 211) zwischen seriellen
Beziehungspraxen auf der einen und auf Kontinuität zielenden
Beziehungsidealen auf der anderen Seite näher zu betrachten, werden
die Ergebnisse durch einen qualitativen Exkurs ergänzt. Matthiesen
stellt der heute zunehmenden Diskontinuität und Brüchigkeit von
Beziehungen hier bewusst die Kontinuität der Beziehungsbiografien
der befragten acht (Ehe-)Paare gegenüber und geht vor allem der
Frage nach, welche »gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die
kontinuierlich-eheliche Biografie« (ebd.) Anfang der 1960er Jahre
förderten.
Der im exkursorischen Rückblick sehr deutlich werdenden
(zeit)spezifischen »Verknüpfung von Sexualbiografie und
Partnerschaftsbiografie« (S. 228), die in den 1960er Jahren vor
allem dadurch charakterisiert war, dass Sexualität relativ fest mit
einer (dauerhaften) Ehe verbunden war, wird dann im fünften Kapitel
weiter nachgegangen – zunächst wiederum im Generationenvergleich
und anhand der hier ablesbaren Wandlungstendenzen. Klar wird dabei
die grundsätzlich erstaunliche Tatsache herausgearbeitet, dass sich
– trotz Wandels der Partnerschaftsbiografien – »die Tendenz,
Sexualität fast ausschließlich in festen Beziehungen zu
organisieren, nicht verändert« (S. 266) hat. Verändert hat sich
jedoch die Bedeutung der Sexualität im Kontext von Beziehungen.
Partnerschaften gründen heute »immer stärker auf emotionalem
Austausch, sexueller Leidenschaft und erotischer Attraktivität« (S.
267), was Matthiesen vor allem mit dem Bedeutungsverlust der Ehe
als einem lange Zeit bedeutsamen, institutionalisierten
»Stabilisator« der Paarbeziehung begründet.
Ergänzt werden die Ausführungen durch einen zweiten Exkurs, der –
wiederum anhand der qualitativen Interviews mit acht Paaren des
Geburtsjahrgangs 1942 – nun die Veränderungen der Paarsexualität im
Lebensverlauf untersucht. Vorgestellt werden dabei drei Typen von
Beziehungsmustern, in denen die Sexualität entweder eine dauerhaft
untergeordnete, eine dauerhaft zentrale oder aber auch eine sich im
Laufe der Beziehung (krisenhaft) wandelnde Rolle einnimmt. Den
vorher herausgestellten Wandlungstendenzen im Generationenvergleich
wird damit eine, für Paarbeziehungen als grundlegend
charakteristisch angenommene, Vielfalt an Beziehungsmustern
gegenübergestellt, womit nicht nur der langfristige Wandel in einem
differenzierteren Licht erscheint, sondern auch zahlreiche noch
offene Forschungsfragen – zum Beispiel »zum Einfluss des Lebens mit
Kindern auf die Sexualbiografie« (S. 300) oder auch zu
Veränderungen der »Sexualität von Paaren im Alter« (ebd.) – ins
Blickfeld gerückt werden.
Im abschließenden sechsten Kapitel werden die zentralen Ergebnisse
der Studie in acht prägnant formulierten Thesen nochmals
zusammengefasst und kritisch diskutiert. Herausgestellt wird hier
zum Beispiel, dass die heute immer wieder konstatierte Seriellität
und Diskontinuität von Beziehungen vor allem ein herausragendes
Merkmal von Partnerschaftsbiografien im jungen Erwachsenenalter
darstellt; dass aktuelle Trends nicht, wie teilweise angenommen
wird, in Richtung einer umfassenden »Singlegesellschaft« gehen,
sondern sich allenfalls der »Fluktuationssingle« (S. 309) als ein
temporäres Zwischenstadium fester Beziehungen nachweisen lässt,
oder auch, dass die heute vielfach angestrebte
Geschlechtergleichheit (bisher) vor allem in der Phase des jungen
Erwachsenenalters realisiert wird.
Alles in allem bietet die Arbeit nicht nur zahlreiche interessante
und wichtige Einzelbefunde zum Wandel von Liebesbeziehungen und
Sexualität, sondern stellt sich dabei auch der positiv zu
bewertenden Zielsetzung einer – eigentlich nahe liegenden, bisher
jedoch kaum eingelösten – Verknüpfung sexualwissenschaftlicher und
familiensoziologischer Fragestellungen. In einem komplexen,
methodisch vielfältigen Forschungssetting wird der Dynamik und
Vielfalt im Verhältnis von Sexual- und Partnerschaftsbiografien
dabei, sowohl auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher als auch
individueller partnerschaftlicher Strukturen und Prozesse,
differenziert nachgegangen. Umso bedauerlicher ist es, dass trotz
des klaren Befundes, dass sich »die Bedeutung sexueller
Außenbeziehungen von einem moralischen Vergehen zu einer
verhandelbaren Option« (S. 267) wandelt, das eingangs so markant
eingeführte, heute allgemein an Aufmerksamkeit und Brisanz
gewinnende Thema Prostitution dabei ein blinder Fleck bleibt.