Rezension zu Narzissmus und Macht
Publik Forum Nr. 20, 2002
Rezension von Norbert Copray
Meisterwerk politischer Psychoanalyse
Vor 25 Jahren erschütterten ein politischer Skandal und ein
Selbstmord die westdeutsche Gesellschaft. Der Ministerpräsident von
Schleswig-Holstein, Uwe Barschel, war wegen Vorwürfen, mit infamen
Methoden seinen Konkurrenten bei der Landtagswahl, Björn Engholm,
attackiert zu haben, von seinem Amt zurückgetreten. Später hatte er
sich bei dem vorgeblichen Versuch, sich zu rehabilitieren, in Genf
in der Badewanne das Leben genommen. Selbst der Suizid wurde noch
als Tat Dritter getarnt, um die Nachwelt über die eigene Person zu
blenden.
Sechzehn Jahre demonstrierte Helmut Kohl selbstgefällige
Machtfülle, die bis zur Selbstidentifikation mit dem Staat reichte
und in korrupter Praxis endete. Wenig später stand die 68er
Generation zur Debatte mit ihren angeblich bis heute unklaren
Grenzziehungen gegenüber der Gewalt als Mittel in der Politik. Der
Krieg im Kosovo lehrte nicht wenige 68er und ihre Gegner, wie
schnell konkrete Umstände prinzipielle Positionen das Fürchten
lehren können.
Vier Mal hält der Psychotherapeut Hans-Jürgen Wirth sein
psychoanalytisches Brennglas über politische Szenarien der
Zeitgeschichte, in denen »Narzissmuss und Macht« wie siamesische
Zwillinge der modernen Gesellschaft sichtbar werden. Mikroskopisch
genau und mit solider politischer Psychologie untersucht er die
Innenausstattung der Macht bis in die Zurichtung ihrer Agenten und
die Affekte der von ihr Betroffenen hinein.
Heraus kommt ein Meisterwerk politischer Psychoanalyse, in dem das
Zeitalter des krankhaften Narzissmus (die Psychologie kennt auch
einen gesunden Narzissmus) durch seine politischen Protagonisten
verkörpert und verständlich wird. Barschel, Kohl, die 68er und
Milosevic sind machtvolle Gestalter ihres Einflussbereiches, aber
sie offenbaren zugleich die Unterwerfungs- und Schutzbedürfnisse
der Beherrschten. Denn diese erst machen aus den Machtgierigen
Mächtige. Wirth: »Dazu gehört auch die Verzahnung der individuellen
Psychopathologie des einzelnen Politikers mit den politischen
Strukturen, die er vorfindet.« Und weiter kann Wirth zeigen, dass
»gesellschaftliche Macht gesucht wird, um innere Gefühle von
Ohnmacht, Hilflosigkeit und Minderwertigkeit zu kompensieren. Macht
übt deshalb gerade auf solche Personen eine unwiderstehliche
Anziehungskraft aus, die an einer narzisstischen
Persönlichkeitsstörung leiden. Ungezügelte Selbstbezogenheit,
Sieger-Mentalität, Karriere-Besessenheit und Größenfantasien sind
Eigenschaften, die der narzisstisch gestörten Persönlichkeit den
Weg in die Schaltzentralen der Macht ebnen.« Die Analyse führt aber
in die Irre, wenn eine kausale Kette korrumpierter und
korrumpierender Macht einfach an den Mächtigen befestigt wird. Denn
es ist das »weit verbreitete Pauschalurteil, alle Politiker seien
entweder korrupt oder wahnsinnig, Ausdruck einer zynischen und
zugleich selbstgerechten Haltung, die Fehler nur bei anderen
wahrzunehmen bereit ist«. Insofern erkennen wir uns in den von
Wirth vorgestellten Analysen selbst wie in einem Spiegel. Denn zu
jedem narzisstisch Erkrankten gehören Komplementär-Narzissten, die
ihm die Steigbügel halten: Reiner Pfeiffer und Freya Barschel,
Hannelore Kohl und Wolfgang Schäuble, Mira Milosevic und die
Serben. Das kann auch ein ganzes Volk sein.
Hier leistet politische Psychoanalyse nicht nur Aufklärung bis hin
zur Selbstwahrnehmung, sondern fördert auch eine
realitätsgerechtere, erwachsene Haltung gegenüber Politik und ein
angemessenes aktives Verhalten.
Ehe Wirth ans konkrete Werk geht, vermittelt er sein analytisches
Handwerkszeug, so dass die Leser in die Lage versetzt werden, ihm
zu folgen und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Schließlich entpuppt
sich sein Werk als Lehrbuch der politischen Psychologie, im besten
Sinne kombiniert aus gut verständlichem Theorieteil und seiner
praktischen Anwendung. Nach der Lektüre ist nicht nur der Nutzen
der Psychoanalyse für die Politik offensichtlich, sondern für
jeden, der von Politik betroffen ist, sich politikverdrossen gibt
oder dafür hält.