Rezension zu Narzissmus und Macht
Die Wochenzeitung
Rezension von Paul Parin
Politische Psychoanalyse kann Erkenntnisse über die verborgenen
Motive und also über die Vertrauenswürdigkeit von Machthabern
beibringen.
Als mir der deutsche Psychosozial-Verlag das Buch »Narzissmus und
Macht« seines Verlagsleiters Hans-Jürgen Wirth zur Besprechung
schickte, war ich erfreut. Seit ich den Aufsatz Ȇber das
Phallische« von Bela Grunberger im Jahr 1964 ins Deutsche
übersetzte (erste Fußnote), war mir klar, dass Narzissmus und Macht
»siamesische Zwillinge« (Wirth) sind. Seither haben zahlreiche
Analytiker festgestellt: Machthaber sind narzisstisch gestört,
Politologen und Journalisten haben diese Diagnose wiederholt und
bestätigt. Keinem jedoch ist es gelungen, die Analyse politischer
Machthaber zu einer Methode psychoanalytischer Politologie zu
entwickeln. Ich dachte, das würde nie geschehen, es sei vielleicht
unmöglich. Darum hat mich das vorliegende Buch so sehr überrascht.
Hans-Jürgen Wirth hat das reale politische Leben von Politikern
unserer Zeit so analysiert, dass eine psychoanalytische Politologie
entstehen kann; mit anderen Worten: Er hat die Plattform erreicht,
auf der eine allgemeine Psychoanalyse der Politik errichtet werden
kann. Der Schritt war unerlässlich.
Warum es so lange gedauert hat, kann man aus der Feststellung
ableiten, die gleichsam entschuldigend wiederholt worden ist:
»Machthaber legen sich nicht auf unsere Couch.« Das heisst, dass
wir Analytiker keine andere Methode haben als die individuelle
Analyse. Wirth hat es gewagt, seine neue Methode darzustellen, und
das Vorhaben ist ihm gelungen.
Aphrodisiakum Macht
In der Einleitung fasst der Autor zusammen, was über die enge
Zusammengehörigkeit von Macht und Narzissmus gedacht und
geschrieben worden ist. Er greift zurück auf die Bibel, auf
Philosophie (Nietzsche), auf Schriftsteller und zitiert
schliesslich Henry Kissinger: »Macht ist das stärkste
Aphrodisiakum.« Anschliessend formuliert er knapp und genau, was
Psychoanalytiker seit Freud, Alfred Adler und anderen über das
Thema geschrieben haben, und konfrontiert sie mit den Deutungen von
Soziologen wie Max Weber, Norbert Elias, Niklas Luhmann, Hannah
Arendt und Michel Foucault. Mario Erdheim hat erkannt, dass die
Weichen für die Entwicklung einer narzisstischen Persönlichkeit in
der Regel erst in der Adoleszenz gestellt werden und nicht in der
frühen Kindheit, wie Heinz Kohut annimmt. Wirth muss die Frage
offen lassen, ob es einen »normalen« Narzissmus der Macht neben dem
aggressiven und paranoiden Narzissmus von Machthabern gibt.
Im Hauptteil des Buches analysiert der Autor drei Machthaber, deren
Macht zerbrochen ist, Uwe Barschel, Helmut Kohl, Slobodan
Milosevic, sowie die narzisstisch überhöhten Hoffnungen und
Niederlagen der »Generation von 1968«, der er selber angehört. Der
grüne deutsche Aussenminister Joschka Fischer ist heute zwar auf
dem Höhepunkt seiner Karriere. Die Bewegung der Achtundsechziger
kann aber auf den Zusammenbruch ihres Machtanspruchs
zurückblicken.
Analyse jenseits der Couch
Nicht zufällig verwende ich für Wirths Verfahren den Ausdruck
»analysiert«. Doch muss ich sogleich hinzufügen, dass diese Analyse
ganz anders vorgeht, als es die freudsche Psychoanalyse erfordert.
Statt sich an das bewährte Setting zu halten, überschreitet er
Grenzen und benützt alle Wege zur Einsicht in unbewusste Prozesse,
wie es seinem Thema angemessen ist.
Beim Zusammenbruch ihrer Position enthüllen Machthaber Facetten
ihres Charakters, die bisher nur vermutet werden konnten. Uwe
Barschel wird von seinem Vertrauten Reiner Pfeiffer blossgestellt.
Er hatte ihn als komplementäres Selbstobjekt konstituiert. Nach dem
Verrat bricht das falsche Selbst des Ministerpräsidenten zusammen.
Noch im Selbstmord versucht er die Legende ungebrochener Macht zu
inszenieren.
Helmut Kohl hat die Macht über seine Partei und über Deutschland
sechzehn Jahre nach Art eines absoluten Herrschers geübt. Hinter
der Maske seiner mächtigen Gestalt und seiner populären Bonhommie
kann er den Anschein eines umsichtigen Landesvaters auch nach dem
Selbstmord seiner Gattin Hannelore aufrechterhalten. Erst als er
Wolfgang Schäuble, der ihm lange selbstlos gedient hat, plötzlich
fallen lässt, zerbricht die Aura bürgerlicher Wohlanständigkeit.
Der Verlust des komplementären Selbstobjekts enthüllt den
schmierigen Profiteur, der seine hohen moralischen Ansprüche
missachtet und sich als gewissenloser Delinquent erweist. Slobodan
Milosevic hat eine lange Reihe ihm ergebener Anhänger und Diener,
die er als komplementäre Selbstobjekte aufgebaut hatte, über die
Klinge springen lassen. Seiner Frau Mirjana Markovic ist er in
einer »Festungsehe« verbunden; für die beiden ist alles Gute und
Edle in der gemeinsamen Ideologie zu finden, alles, was von aussen
kommt, ist böse, ist Verrat am selbst gestalteten Mythos Serbien.
Noch als Angeklagter am Haager Tribunal geniesst er bei vielen die
Anerkennung als Held der serbischen Nation im Kampf gegen alle
Todfeinde – das heisst alle, welche den Kriegen, organisierten
Morden und Völkermorden Einhalt geboten haben.
In seine Analyse bezieht Wirth alles ein, was die Psychologie des
Machthabers erhellen könnte: Herkunft, Familie, Kindheit, Traumen
und dazu die Struktur und Gestalten des sozialen Umfelds, zivile
und militärische Ereignisse, Intrigen und Kämpfe. Als Hinweise
dienen ihm Aussagen der in- und ausländischen Presse. Vor allem
führt er Deutungen und psychologische Vermutungen kompetenter und
weniger kompetenter Analytiker an, die zu seinem Thema passen oder
zu passen scheinen.
Während der freudsche Analytiker auf die Mitarbeit des Analysanden
angewiesen ist und sich die Relevanz seiner Deutungen aus dem
Fortgang der Analyse ergibt, muss die Analyse der Politiker ohne
das freie Assoziieren auskommen. Der Autor zeigt selber, wie er die
Fülle seines »Materials« ordnet. Er hat als viertes Beispiel die
68er-Bewegung – mithin sich selber – zum Wegleiter seiner Analyse
genommen. Aber auch bei den drei anderen Fällen war er
offensichtlich nicht nur interessierter Beobachter wie irgendein
aufgeweckter deutscher Citoyen. Er war engagiert, hat das Geschehen
intensiv miterlebt.
Setting neuer Art
Andere Analytiker sind mit ihren Deutungsversuchen in die Distanz
von objektiven, wissenschaftlichen Beobachtern zurückgetreten. Ihre
Deutungen behielten dadurch den Rang phänomenologischer Betrachtung
– diagnostischer Etiketten, oft nur psychologischer Spekulation. Im
Gegensatz dazu erhebt Hans-Jürgen Wirth seine eigene Einstellung,
seine idiosynkratische Gegenübertragung zum Organisator seiner
Analyse. Statt der Abgrenzung des Settings bleibt er auf das Thema
der unbewussten Motive politischen Handelns zentriert. Die
Entgrenzung gegen aussen erlaubt es ihm, alle Informationen, die
zum Thema hinführen, zu ordnen. Dieses neuartige Setting ist ein
Wagnis. Natürlich kann es fehlgehen. Dafür gewinnt die Analyse jene
Evidenz, die in der Individualanalyse vom Dialog beider Partner
ausgeht.
Wirth konnte von der Giessener Tradition ausgehen. Horst Eberhard
Richter hat als einer der Ersten die narzisstischen Projektionen
der Eltern – also einen äusseren Einfluss – auf ihre Kinder und
damit auf die individuelle Entwicklung beschrieben, und hier gab es
den erfolgreichen Versuch, entgleiste Randgruppen – die man nicht
auf die Couch legen konnte – mit den Mitteln der Psychoanalyse als
psychosoziale Therapie zu behandeln.
In »Psychoanalyse und Politik«, dem vorletzten Abschnitt des
Buches, versucht Wirth zu allgemeineren Aussagen zu gelangen. Dass
unbewusste Prozesse einen bedeutenden Anteil am politischen
Geschehen haben, ist unbestritten. Dem Autor ist klar, dass es
nicht nur den aggressiven, rücksichtslosen Narzissmus der
Machthaber gibt, sondern auch einen »normalen«, gesunden
Narzissmus, der in jeder Analyse objektbezogene Beziehungen ablöst
oder begleitet. Wie aber muss man es anstellen, diesen im
Kräftespiel der Macht zum Zug kommen zu lassen? Die hypothetischen
Versuche, die es gibt, den guten vom bösen Machthaber zu
unterscheiden, sind wiederum kurz und klar dargestellt. Dem Autor
leuchtet die Darstellung von Otto Kernberg ein, der auflistet,
welche Haltungen der Gegenübertragung bewusst gemacht und vermieden
werden müssen, um der Politik des »bösen« Politikers
entgegenzutreten und den guten Machthaber zu unterstützen. Eine
nicht lösbare Aufgabe.
Falle des Manichäismus
Dem Rezensenten fällt auf, dass alle Autoren, auch Otto Kernberg,
hinter den Anspruch einer Psychoanalyse des politischen Handelns
zurückfallen. Die Grundlage ihres Denkens ist die alte Dichotomie
von Gut und Böse, die den gesunden Menschenverstand und das
psychiatrisch-diagnostische Bild des Menschen bestimmt.
Statt die unauflösbare manichäische Idee von gut – böse, gesund –
krank, vernünftig bewussten gegenüber krankhaft narzisstischen und
von der Macht korrumpierten Machthabern zu wiederholen, möchte ich
an einem Beispiel zeigen, dass sich Wirths Einsichten eignen,
politische Prozesse psychoanalytisch auf- zuklären oder mit anderen
Worten der Dialektik historischer Ereignisse gerecht zu werden.
Der englische Schriftsteller Giles Foden hat kürzlich im Roman
(zweite Fußnote) »Der letzte König von Schottland« den schottischen
Leibarzt von Idi Amin, Dr. Nicholas Garrigan, der sich König von
Schottland nennt, zum Protagonisten und Icherzähler gewählt. Idi
Amin ist ein extrem machtbesessener Diktator, narzisstisch,
grössenwahnsinnig und grausam. Der »ganz normale« junge Arzt wird
vom Diktator ausgewählt und bevorzugt. Er wird schrittweise in die
schreckliche Geschichte Ugandas hineingezogen. Von den Untaten
seines Herrschers abgestossen, erliegt er, für ihn selber
unbegreiflich, dessen Charisma. Er versucht sich zu befreien, ist
aber eigenartig willenlos. Er möchte sich von der krassen Amoral
Idi Amins absetzen und aus dem Land fliehen, auch weil er sicher
ist, dass er schliesslich vom Machthaber umgebracht werden wird.
Entgegen seinem bewussten Entschluss ist er willenlos, sobald der
Diktator ihn wieder braucht und missbraucht. Es gelingt ihm nicht,
rechtzeitig zu fliehen. Er bleibt so lange im Land, bis es für eine
Flucht eigentlich zu spät ist. Nur durch glückliche Zufälle kann er
das Land noch verlassen. Als psychisch gebrochener Mann kehrt er
nach Schottland zurück.
Der Dichter hat Dr. Nicholas Garrigan als narzisstisches
Selbstobjekt des Diktators und Machtmenschen geschaffen. Er
entspricht den narzisstischen Selbstobjekten Barschels (Reiner
Pfeiffer), Helmut Kohls (Wolfgang Schäuble) und den willenlosen
Gefolgsleuten und Selbstobjekten des Slobodan Milosevic. Auch
andere Anhänger von Idi Amin sind ihm willenlos verfallen. Der
Leibarzt kann seine Abhängigkeit reflektieren, wozu die
afrikanischen Günstlinge nicht imstande sind.
Die Erzählkunst von Giles Foden hat eine Figur geschaffen, mit
deren Hilfe wir rätselhafte und unheilvolle Fehler, die sich in
unserer politischen Wirklichkeit ereignet haben, verstehen und
künftig vermeiden könnten.
Gefährdete Vermittler
Der sich wiederholende typische Vorgang ist: Demokratische
westliche Regierungen gehen immer wieder enge politische
Freundschaften mit Diktatoren ein und pflegen sie lange, bis sich
endlich herausstellt, dass jene Machthaber Initiatoren
abscheulicher Verbrechen sind und sich als Feinde jeder Demokratie
erweisen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erinnere ich an einige
Namen: der portugiesische Diktator Salazar, Adolf Hitler – der
Friedensheld des britischen Premiers Chamberlain -, Mussolini,
Mobutu in Zaire, Suharto in Indonesien, General Pinochet, General
Videla und andere lateinamerikanische Diktatoren. Zuletzt noch
Saddam Hussein, dem der jetzige amerikanische Verteidigungsminister
Donald Rumsfeld noch persönlich Anthraxbazillen und anderes
Material für Massenvernichtungswaffen verkauft hat. Was in der
grossen Politik geschieht, ist eben nicht aus rationalen
Überlegungen erklärlich. Wo solche Entscheidungen längst geschehen
sind, ist es zu spät, um etwas am Ergebnis zu ändern.
Eine politische Psychoanalyse könnte rechtzeitig aufdecken, wer des
Vertrauens würdig ist. Moralische Bedenken und rationale
Nutzen-Schaden-Analysen reichen dazu nicht aus. Seit dem Beginn der
Kriege im zerfallenden Jugoslawien haben die Westmächte
nacheinander verschiedene Vermittler eingesetzt, einen ehemaligen
englischen und einen amerikanischen Aussenminister. Sie sind alle
dem Charme des serbischen Diktators erlegen, von Lord Carrington
an. Sie waren nicht dumm oder unerfahren, konnten aber dem Zauber
der narzisstischen Projektion des Machthabers nichts
entgegensetzen. Sogar Richard Holbrooke, den berühmt unabhängigen
und energischen Unterhändler der Nato, konnte man sehen, wie er
Slobodan Milosevic charmant verabschiedete: »Sie, Herr Präsident,
haben Krieg oder Frieden in der Hand« – das geschah nach dem
Scheitern der Konferenz von Rambouillet, als der Zusammenbruch der
Macht des Diktators schon greifbar nahe war.
Eine politische Psychoanalyse könnte unschwer aufzeigen, dass
unsere erfahrenen Politiker ebenso wie die Wähler demokratischer
Parteien, ob sie nun Serbisch, Italienisch, Arabisch sprechen oder
Spanisch, Portugiesisch, Neuhebräisch oder was immer, zu
sekundär-narzisstischen Objekten von Machthabern geworden sind. Sie
können aus der Beziehungsfalle der Macht ebenso wenig heraus wie
der arme, normale Dr. Nicholas Garrigan im Roman von Giles
Foden.
(Erste Fußnote) Bela Grunberger: »Über das Phallische« (Orig.: »De
l Image phallique«), übersetzt von Paul Parin, in: »Psyche«, 17.
Jahrgang, Heft 10, Januar 1964, S. 604 – 620.
(Zweite Fußnote) Giles Foden: »Der letzte König von Schottland«.
Roman. Aufbau Verlag. Berlin 2001. 429 Seiten. Fr. 34.80.